Geisterfahrt

Veröffentlicht in: alles, Reisen | 0

imagePoltawa – Kiew. Wir haben den schnellsten Marschrutkafahrer der Welt erwischt. Er kennt nur zwei Fahrspuren – links und ganz links. Auch wenn es die Gegenspur ist. Bis jetzt ist es gut gegangen. Ich muss schreiben, um mich abzulenken.

Heute haben wir uns von unsern Freunden verabschiedet. Das ist schon komisch, wenn man weiß, dass man sich erst in einem Jahr wiedersieht. Frühestens. Erst ist man zwei Wochen eng zusammen. Teilt nicht nur die Zeit, sondern auch Gedanken, Wünsche, Vorstellungen. Und dann – wer weiß.

Die Marschrutka hebt gleich ab. Ich weiß nicht, ob der Typ da vorn noch weiß, was er macht. Leider wird eine Seite der Autobahn gerade immer wieder gebaut. Der Fahrer baut auch. Auf das Prinzip Hoffnung. Niemand sagt was. Sind alle erstarrt?
Der Gegenver blendet kurz auf, Warnung vor der Polizei. Das beschert uns vorübergehend ein Tempo nahe der angezeigten 40. Doch der Effekt ist nur von sehr kurzer Dauer. Dann treibts mir wieder den Schweiß auf die Stirn. Ah, jetzt winken zwei. Wir halten. Sie quetschen sich auf die letzten, eigentlich nicht mehr zu sitzenden Gelegenheiten. Dicke Koffer blockieren die freien Reste des Ganges. Stapelfahren.
Die größere Masse erhöht die Bergabgeschwindigkeit des Fahrzeugs nochmals. Haben wir hier den Wahnsinn gebucht?

Eigentlich wollte ich über die Poltawschtschynna schreiben, jener Landstrich um Poltawa, der als das urukrainische Kernland gilt. Land der Dichter. Land von großer Weite, mit freundlichen Bewohnern. Anders als im Charkiwschen, wo in den Dörfern eher noch die lebten, die den Absprung in die Stadt nicht geschafft haben, scheinen die (Dorf-)Bewohner hier eins mit ihrem Land. Es wirkt alles lieblicher, friedlicher, heller.
imageUnd ich wollte schreiben über die Worskla, das schöne kleine Flüsslein, dass diese Landschaft durchfließt. Der Legende nach trafen sich hier in vergangenen Zeiten zwei große Herrschaften (ich hab vergessen, wer es war) auf einem Boot auf dem Flüsschen, um irgendeinen Bund zu schließen – und zu begießen. Dabei fiel ihnen das kostbare Glas ins Wasser. So kam die Worskla zu ihrem Namen: „die das Glas genommen hat“. Ein Paradies für Paddler. Ruhig fließt sie dahin, schlängelt sich malerisch durch weite Wiesen und kleine Wälder. Bietet unzählige Möglichkeiten, um anzulegen, das Zelt aufzustellen, ein Feuerchen zu machen. Ein kleines Paradies.

Noch einmal hält die Marschrutka. Tatsächlich, vorn neben dem Fahrer ist der dritte Platz noch frei. Nun sind wir proppenvoll und es kann richtig losgehen. Gottseidank ein Stück ordentliche Autobahn. Die erste Stunde ist geschafft.
Halt in Chorol. Ein Elternpaar samt zwei Kindern samt ihrer Baggage steigt noch dazu. Wie das geht? Alles wird im Gang noch mehr zusammengeschoben. Jetzt kommt doch ein wenig Unmut auf im Bus. Galgenhumor dazu. Für Uneingeweihte sei hier noch erwähnt: Marschrutka ist ein KLEINBus, hier etwa ein hoher Mercedes Sprinter, fünf Dreierreihen einschließlich der Fahrerreihe, ganz hinten vier Sitze, faktisch kein Kofferraum. Wir sind jetzt 21 Erwachsene, zwei Kinder, fünf Riesenkoffer, unsre zwei großen Rucksäcke und dazu diverses Kleingepäck.

Nach zwei Stunden steigen vier Leute aus, was die Lage etwas entspannt. Auch der Fahrer scheint ruhiger geworden, denn trotz freier Autobahn verzichtet er nun auf Flugversuche.
Eine halbe Stunde später ist technische Pause: Zehn Minuten Zeit zum Essen fassen an den vielen Basartschikis und Pinkeln. Paar Nüsse müssen sein, als Nervennahrung. Marjana startet einen dritten Versuch, mit dem Fahrer zu klären, dass er uns vor Kiew absetzt. Angeblich kennt er den Ort nicht, verspricht aber nun, „sich mit zu orientieren“. Das kann man hier als JA nehmen, trotzdem bleibt die Sache spannend.

imageDa es gelassen weitergeht, kann ich nochmal die Bilder vom Öko-Camp in Kozijiwka erinnern. Schon der Weg dorthin war abenteuerlich: Straße – Dorfstraße mit Löchern – Dorfstraße mit vielen Löchern – Sandstraße – Feldweg – Fahrspur am Feldrand – Waldweglein. Dann stoppte Serhi mitten im Wald und meinte, wir seien da. Also Rucksäcke raus, noch 200 Meter durch den Dschungel laufen. Dann standen wir auf einer kleinen, von Bäumen hübsch eingesäumten Wiese mit hohem bis sehr hohem Gras. Olja kam uns entgegen, hieß uns willkommen und meinte, hier könnten wir zelten. Nun ja, es wurde dunkel, also taten wir dies. Beim Lagerfeuer gab es dann einfaches, leckeres Abendbrot mit Schnittchen, Kürbispaste, Gurken, Tomaten, Keksen und Knüppelteig.
Am nächsten Tag entpuppte sich das ganze Lager als echt öko mit Freiluftküche, überdachtem Esstisch usw., strengem Alkoholverbot, hübsch gelegen an einem kleinen Teich. Die Wiesen waren von großer Artenvielfalt. Die Insekten leider auch. So viele Wespen, Mücken, Spinnen, Käfer und Zecken auf einmal habe ich selten gesehen. Nun, wir haben es überlebt, zwei schöne Touren gemacht und uns dann nach vier Tagen wie die Könige über das erste Eis gefreut, nachdem wir wieder in die Zivilisation eingedrungen waren.

Die Marschrutka füllte sich inzwischen erneut, der Fahrer fährt immer noch gemäßigt und hat nun Muße, dabei sein Geld zu zählen und seinen Papierkram zu erledigen.
Das ändert sich schlagartig, als wir 40 Kilometer vor Kiew in eine mittlere Stadt einfahren. Unser Fahrer hat eine Rotmacke und einen Zukurzkommkomplex: Immer wenn vor uns rote Bremslichter aufleuchten, drückt er aufs Gas.
Immerhin hat er sich kurz nach unserem Ziel erkundigt. Und in der Tat: Nach vier Stunden und 15 Minuten dürfen wir dieses Geisterfahrzeug an der richtigen Haltestelle verlassen.

Wir danken all denen, die entgegenkommend geistesgegenwärtig auswichen. Wir danken denen, die beim Überholtwerden schnell von rechts nach ganz äußerst rechts zur Seite fuhren. Wir danken auch denen, die kurz vor dem ersten Touchieren ihres Kofferraumes noch schnell entflohen. Und wir danken dem begleitenden Schutzengelgeschwader.

WIR SIND IN KIEW!