Die Welt im Plazkartni

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imageNoch fünf Minuten! Begeleitpersonen aussteigen! Die Stimme des Schaffners schallt durch den Wagon.
Wir wagen das Abenteuer: 16.15 Uhr ab Lviv, Nachtzug bis Charkiw. 20 Stunden Plazkartni. Das ist jenes fahrende große gemeinsame Schlafzimmer für 53 Leute. Wir haben es so gewollt.
Der Zug rollt an. Es geht gemächlich los. Während draußen Lviv vorüberzieht, ist es drinnen der Schaffner. Die Fahrkarten werden eingesammelt und die Bettwäsche ausgegeben. Erste Fleißige beziehen sofort.

Meine Gedanken erinnern die letzten Eindrücke. Besuch bei Ruslana. Kleine Zweizimmerwohnung im Hochhaus. 2700 Hrven Monatsmiete. Eine mir bekannte Lehrerin verdient 2400 Hrv. im Monat. Das kann also nicht funktionieren. Klappt auch nur als WG – im größeren Zimmer Natalia mit ihrem Mann und kleinem Kind, im kleineren eine Freundin.
Gestern waren wir bei Oksana. Ein Dorf im Einzugsgebiet von Lviv. Ein kleines, nett eingerichtetes und hübsch zurechtgemachtes Häuschen. Wasser allerdings nur per Eimer aus dem Brunnen, Klo übern Hof. Vorher liefen wir mit ihr durchs Dorf. Viele neue Häuser waren zu sehen, eines größer als das andere. Die Höhe der Mauern korrespondiert mit der Hausgröße. Auf dem Friedhof eine goldfunkelnde neue Friedhofskapelle. Kleine Erinnerung eines Geldmenschen an seine verstorbene Gattin, großzügigerweise sonntags für eine Stunde Andacht geöffnet für alle.

Auf dem Weg zum Bahnhof heute liefen wir an einem Basar vorbei – oder besser am Vor-Basar: Eine lange Reihe Menschen am Straßenrand, das verkaufen wollend, was man eben so hat, das alte Jackett vom Opa, die ausgelatschten Hausschuhe von Oma, die Schlüpper von Mutter… Was mich daran besonders bewegt, ist nicht nur die Tatsache, dass solches verkauft wird. Sondern vielmehr, dass es ja auch Leute geben muss, die solches noch kaufen (müssen).
Am Vorabend waren wir auf dem zentralen Rynok-Platz unterwegs. Die Straßen voller Menschen, schick angezogen, lachend, spielend (5 Minuten Segway fahren 50 Hrv., 2€), Essen gehend, Trinken natürlich auch. Was für Gegensätze!
Was wird das mit diesem Land noch machen? Wie lange lassen Arme sich eine solche Benachteiligung gefallen?

Erster Halt. Wir schauen uns glücklich an. Nur noch 19 Stunden. Die junge Frau mir gegenüber surft mit ihrem Smartphone im Internet auf der Suche nach Sommerkleidchen. Der Typ neben mir hat sein schickes Hemd auf dem Klo ausgezogen und sitzt jetzt im Adidas-Shirt da. Viele andere handhaben das ebenso.
Nebenan wird ein ganzes Hühnchen ausgepackt.
Die Frau mit dem Imbisswagen kommt schon zum zweiten Mal durch. Und der Schaffner bietet Kaffee und Tee an. Jetzt wirds also gemütlich.

Ein paar Stunden später hat die Besetzung mir gegenüber gewechselt. Ein wettergegerbter Mann schwer zu schätzenden Alters sitzt nun dort. Sitzt. Reglos.

Dann ein großer Halt. Alles stürzt raus an die frische Luft. Dort werden wir überrolt von einer Welle von Bahnsteigverkäufern. Wareniky, gekühltes Bier, Wasser, Eis, Gebäck, Himbeeren, Pflaumen und wieder Wareniky. Sie ziehen mit ihren Plastetaschen oder drei Flaschen im Arm den Bahnsteig hin und her. Herrlich. Wie sich alles organisiert, einfach so.

Nach fast zwei Stunden macht die Statue gegenüber uns völlig überraschend den Mund auf. Unser Deutsch hat ihn angeregt. Damals, in den 60-igern, in der Schule habe er auch Deutsch gelernt.
So kommen wir ins Gespräch. Dieser sinnlose Krieg, Bruder gegen Bruder; er versteht das nicht. Auf unsere Fragen hin erzählt Igor, dass er aus Debalzewe sei. Seine Wohnung befinde noch dort, unversehrt. Im Zentrum der Stadt sei zur Zeit Ruhe. Nur in den Außenbezirken würde ab und an noch geschossen. Er selbst wohne jetzt 70 km weiter auf ukrainischem Territorium. Status: Aussiedler. Dort bezieht er auch seine Rente. Ab und an begibt er sich über die neue Grenze, um nach seiner Wohnung zu schauen. Nur die Alten seien nahe der Heimat geblieben, die Jüngeren würden nach Westen fliehen, sich dort oftmals gar nicht registrieren lassen, um nicht zur Armee eingezogen zu werden.
Als wir uns in unsere Oberbetten verabschieden, es ist nun halb zwölf, entspinnt sich ein Gespräch zwischen Igor und einer älteren weißhaareigen Frau schräg gegenüber. Die Weißhaarige beschreibt detailliert die Größe diverser Einschusslöcher in ihrem Dorf. Plötzlich steht das Kriegsthema im Abteil. Die lustigen Jüngelchen nebenan schweigen betroffen. Schließlich ruft eine Rothaarige zur Ruhe und beendet damit das Gespräch.

Wir schlafen wunderbar. Als wir in Poltawa aufstehen, um die frische Luft während des letzten größeren Halts zu genießen, sitzt Igor schon wieder statuengleich auf seinem Platz. Wir bieten ihm Frühstück an. Doch er nimmt nichts. Lieber geht er stattdessen raus, damit Marjana seinen Sitz mir gegenüber nutzen kann.

Fast ist es geschafft. Wobei fast noch mehr als eine Stunde bedeutet. Die Dimensionen hier sind einfach andere. Und die Ruhe auch. Das beeindruckt. Die ganze Landschaft hier, die Bewegungen der Schaffner, alles strahlt eine Ruhe aus, die einen im Urlaub wähnt.
Die Zuginsassen sind inzwischen wieder stadtfein umgekleidet. Die Reste der nächtlichen Müdigkeit und die Spannung vor dem, was einen erwartet, legen eine eigenartige Stille über den Wagon.

Pünktlich 12.17 Uhr fahren wir in Charkiw ein.